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Für eine Handvoll Granulat

Die Pallas Group im niedersächsischen Diepholz ist nach eigener Aussage Europas ältester, noch produzierender Vinylhersteller. Mitte der achtziger Jahre machte das Unternehmen eine kreative Verschanufpause und lagerte während fulminanten Aufstiegs der Compact Disc die Schallplattenpressen ein. So stellte sich Pallas stur dem Niedergang der Schallplatte in den Weg. Mit Erfolg: Bald wird in Diepholz wieder mehr Vinyl als CDs produziert.

 

Seine unternehmerische Entscheidung hat Gewicht, genau genommen 180 Gramm. So viel PVC-Granulat wird in Holger Neumanns Schallplattenfabrik Pallas zur Herstellung einer hochwertigen LP benötigt. Monatlich sind es 30 Tonnen Granulat. Im Presswerk in Diepholz werden rund 3,5 Millionen Vinylscheiben im Jahr hergestellt. Und das, obwohl das Sterbeglöckchen der schwarzen Scheibe bereits seit Mitte der achtziger Jahre immer heftiger geläutet wurde. Doch weder der Siegeszug der CD als glänzende Massenware noch die grenzenlose Verfügbarkeit des konturlosen Internet-Streamings auf iPod und Smartphone konnten der Schallplatte den Garaus machen. Ein Viertel der rund 120 Mitarbeiter kümmert sich wieder um Vinyl.

 

Man könnte Neumanns unternehmerische Strategie als Mischung aus Langmut, Konservatismus und Penetranz bezeichnen. Der Geschäftsführer von Europas ältestem, noch produzierendem Schallplattenhersteller nennt sie schlicht „Bauchgefühl“. Bis 1986, als mit der Tochter P + O die CD-Fertigung in Diepholz aufgebaut wurde, hatte der Familienbetrieb fast vier Jahrzehnte lang Vinylscheiben gepresst. „Mein Großvater hatte ihn gegründet, mein Vater fortgeführt“, sagt der 54-Jährige, dessen Sohn Dominic bereits mitarbeitet. Zudem schaut der 86-jährige Seniorchef Rolf täglich nach dem Rechten. „Schallplatten waren ihr Lebenswerk. Das schmeißt man nicht einfach weg. Die großen Labels haben es damals gemacht und ihre Plattenpressen von heute auf morgen verschrottet. Das konnten wir nicht. Deshalb haben wir unsere Pressen eingelagert. Eine der besten Entscheidungen in der Firmengeschichte.“ Der Mittelstand spielt zuweilen nach eigenen Regeln. 

 

Aus der Mangelverwaltung haben die Neumänner eine Tugend gemacht. Die schwedischen Toolex-Alpha-Automaten stammen aus den Siebzigern. Was Neueres gibt es nicht. Was kaputt geht, wird repariert; was fehlt, wird nachgebaut – so einfach ist das. „Unsere Automaten sind heute teilweise dreischichtig in Betrieb, immer öfter auch samstags. Es läuft perfekt“, sagt Neumann. Pallas teilt sich mit fünf Herstellern den Weltmarkt. „Wir verkaufen 60 Prozent unserer Platten in Europa, den Rest in den USA, Asien und Australien. Allein in die USA haben wir im letzten Jahr mehrere hunderttausend LPs exportiert. Etwa jede sechste der dort verkauften Platten kam von uns.“

 

Die Bandbreite der Kunden ist groß. Vinyl-Liebhaber mit High-End-Anlage schwören auf den warmen, körperlichen Klang. Unter DJs, vor allem in den Bereichen House, Techno, Hip-Hop, Drum and Bass ist die LP beliebt, weil sie sich aufgrund ihrer Technik gut zum Scratchen und Mixen einzelner Tracks eignet. Und für die Sammler ist die Schallplatte in Verbindung mit dem Cover ein ästhetisches Gesamtkunstwerk. „Ich glaube, viele Musikliebhaber haben ganz einfach die seelenlosen Digitaldateien satt. Durch die Vinylplatte bekommt die Musik wieder eine Seele“, versichert Neumann.

Seine Referenz ist die Liste der Künstler und Bands, die sich liest wie die „Hall of fame“ der Rockmusik. „Gerade wird eine Spezialauflage von Frank Zappa bei uns gepresst und verpackt“, sagt der Musikfreak und zählt auf: „Wir haben eine limitierte Box für Metallica produziert, eine weiße Schallplatte für die Beasty Boys, sämtliche Stones-Alben zu jeweils 10.000 Stück. Oder die Sammler-Edition von Led Zeppelin. ,Nevermind' von Nirvana ist auch so ein Klassiker, der immer wieder nachbestellt wird. Dabei war auch das Dreifach-Album von Neil Young und die Achter-Box der Dire Straits.“

 

Der Basispreis einer Vinylschallplatte beträgt 1,50 Euro bei Abnahme von mindestens 500 Stück.  Zum Vergleich: Eine CD kostet je nach Auflagenhöhe 15 bis 20 Cent. Vor 25 Jahren kostete die LP im Verkauf etwa 17 D-Mark, also rund neun Euro. Heute muss man für eine 180-Gramm-Pressung im Schnitt 23 Euro bezahlen. „Wir verdienen an einer Platte nicht mehr als vor 20 Jahren“, versichert Holger Neumann. „Als Hersteller sind wir der kleinste Faktor. Der Handel schwimmt auf dem Retro-Trend mit und schlägt für die Exklusivität auch noch etwas drauf.“ 

Die Rechnung geht auf: Zu Beginn der 2010er Jahre werden jährlich wieder rund 15 Millionen Schallplatten gefertigt, meldete der Bundesverband Musikindustrie (BVMI). Nach der Einführung der neuen Tonträger konnte sich der Absatz von Vinylplatten wieder etwas erholen, so ist der weltweite Verkauf von neu produzierten Vinylschallplatten im Jahr 2008 gegenüber dem Vorjahr um 89 Prozent gestiegen. 2006 wurden in Deutschland noch 600.000 Langspielplatten verkauft, 2007 700.000 und 2008 900.000 Exemplare. Weiterhin entfällt auf das Schallplattengeschäft aber nur knapp ein Prozent des Umsatzes des deutschen Musikmarktes.

 

Vom Markt verschwunden ist inzwischen die Musikcassette (MC). „Der Markt ist tot“, stellt Neumann fest. In den 70er und 80er Jahren produzierte die Pallas-Tochter Orchestrola rund zwei Millionen bespielter Kassetten pro Jahr auf zwei Kopierstraßen. Zum Schluss lagen nur noch Bestellungen für 2000 im Monat vor – fast ausschließlich von Schulbuchverlagen und Produzenten christlicher Musik. Zur geringen Stückzahl kamen Probleme mit dem Nachschub – es gab kaum noch Material. Nach mehr als 30 Jahren wurde die MC-Produktion in Diepholz eingestellt. Die zehn Mitarbeiter, ein Teil ging in den Ruhestand oder übernahmen andere Aufgaben im Betrieb. 

Die wichtigste Säule ist für die Pallas Group bleibt die Compact Disc, die aber wegen der Download-Konkurrenz auf dem absteigenden Ast ist. Von einst bis zu 18 Millionen Stück im Jahr ist die Produktion in Diepholz auf aktuell rund acht Millionen CDs und DVDs geschrumpft. Holger Neumann prognostiziert: „Mit Sicherheit werden in den nächsten Jahren in Europa viele CD-Werke schließen müssen. Ich gebe der CD noch zehn Jahre“, und sieht für die Zukunft schwarz: „Schon in zwei Jahren werden wir mit Schallplatten so viel Umsatz machen wie mit CDs.“ 

 

Dabei hätte sich das Thema CD-Produktion in Diepholz um ein Haar viel früher erledigt. In den frühen Morgenstunden des Ostermontags 2013 brannte wegen eines technischen Defekts die komplette Fertigungshalle der P + O mit den Produktionsanlagen für CD, CD-ROM und DVD nieder. Das Feuer richtete einen Schaden von zehn Millionen Euro an. „Nach dem ersten großen Schock ist unsere Belegschaft noch enger zusammengerückt“, so Neumann. 15 Monate später wird die CD-Produktion in der neuen Halle wieder aufgenommen. Die Vinyl-Fertigung soll nach und nach vom alten Standort auf der gegenüberliegenden Straßenseite ins neue Gebäude verlagert werden. 

 

Keiner der 60 bei P + O beschäftigten Mitarbeiter verlor durch den Brand seinen Arbeitsplatz. Sie wurden entweder bei den Tochterfirmen beschäftigt oder freigestellt. Ihr Gehalt übernahm die Betriebsunterbrechungsversicherung der Pallas Group. „Wir waren zu 98,9 Prozent richtig versichert“, ist Neumann froh – und auch darüber, dass fast alle Kunden in dieser Zeit der Firma die Treue gehalten. Aufträge wurden statt in Diepholz bei einer Partnerfirma in Gütersloh abgewickelt. Die Verpackung erfolgte weiter im Stammhaus. Angesichts des kleiner werdenden Marktes für CDs konnte die Pallas Group in der neuen Halle ihre Produktionskapazitäten anpassen. Vielleicht passe die Entwicklung nach dem Schicksalsschlag sogar ein bisschen zur Schallplattenproduktion, meint Unternehmenschef Holger Neumann: „Egal, was kommt, wir lassen uns einfach nicht unterkriegen.“

 

anBeat/oli

Erschienen in DIE WIRTSCHAFT 4/2014

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