Ein langes Gespräch, dafür umso kurzweiliger: 60 Minuten mit Chris Jarrett. Der 63-jährige Pianist erzählt über ein Leben in Not und für die Musik - und im Schatten des großen Bruders Keith. Streit, Gewalt, Vietnam vertrieben ihn aus seiner Heimat. In Oldenburg fand er schließlich seinen Seelenfrieden.
Zu den großen Plagen der Menschheit zählt der Heuschnupfen. Wen er trifft, so wie Chris Jarrett, hat meist ein Leben lang dagegen zu kämpfen – und in Zeiten einer Pandemie ganz besonders. „Ich mag derzeit nicht so gern rausgehen in meinem geschwächten Zustand. Insofern ist diese verordnete Quarantäne ein akuter Selbstschutz. Ich habe gelernt, damit zu leben, und ich weiß, wie ich mich verhalten muss“.
Ansonsten möchte der virtuose Pianist und Komponist im Moment nicht weiter klagen. Als professioneller Musiker, der auch in Oldenburg einige Spuren hinterließ, lebt er alles in allem gut von seiner Arbeit im Studio und auf der Bühne sowie als Dozent an der Musikhochschule Mainz.
Wie bei den meisten Menschen weltweit findet das Geschehen wegen Corona allerdings komplett von zu Hause aus statt. Beim 63-jährigen US-Amerikaner befindet sich das „Homeoffice“ in der Südpfalz, direkt an der deutsch-französischen Grenze. „Ich habe vor einigen Tagen zum ersten Mal Musikgeschichte unterrichtet – über Skype für die Uni in Mainz. Es ging eigentlich ganz gut“, sagt er fast überrascht. „Ich mochte Skype nie. Damit zu arbeiten ist natürlich sehr effizient, aber unangenehm.“
Hätte man ihn vor 40 Jahren damit konfrontiert, dass er sich von solch einer amerikanischen Datenkrake abhängig machen würde, Jarrett hätte vehement dagegen protestiert. Als er Anfang der Achtzigerjahre nach Deutschland kam und dann nach Oldenburg zog, war die Welt geopolitisch eine andere: Die militärischen Blöcke bedrohten die Menschheit in Ost und West, Armut und Ausbeutung waren getrennt zwischen Nord und Süd. Mehr Übersichtlichkeit bedeutete also nicht mehr Gerechtigkeit. „Es waren andere Zeiten. Die amerikanische Gesellschaft litt extrem unter den Wunden, die der Rassismus und der Krieg in Vietnam hinterlassen hatte. Das war in den Familien zu spüren, auch in unserer“, sagt Jarrett.
Dem 1956 im Bundesstaat Pennsylvania als jüngstem von fünf Söhnen geborenen Chris ist kaum etwas fremd. Er erlebte in frühester Kindheit große familiäre Probleme mit zum Teil nackter Not. Nach der Scheidung der Eltern ging es bei den Jarretts sozial und familiär bergab.
Der älteste Bruder Keith, geboren am 8. Mai 1945 und bald 75, musste früh seinen eigenen Weg gehen, erhielt seit dem dritten Lebensjahr Klavierunterricht und stand mit Sieben erstmals auf der Bühne. Art Blakey, Charles Lloyd, Monterey Jazz, Miles Davis, The Köln Concert – der Rest ist Jazz-Geschichte. Chris, elf Jahre jünger, musste in der zerrütteten, streng gläubigen Familie viel Ungerechtigkeit und Streit erleiden. „In meinem ganzen Leben hatte ich Krisen zu meistern“, sagte er. „Damals habe ich mir angewöhnt, zu agieren und alles zu tun, um etwas zu verändern. Ein Überlebenswille. Danach bin ich ruhig.“
Zudem ist er – wie seine Brüder – ausgestattet mit großem musikalischen Talent und der klaren Absicht, Komponist zu werden. Die Ausbildung war erst mal nicht zu bezahlen, bis sich Virginia Waring seiner annahm. Die Ehefrau von Fred Waring, dem populären Bandleader, machte den heranwachsenden Chris mit Pianist Vincenz Ruzicka bekannt. Der gebürtige Böhme wurde sein wichtigster Klavierlehrer.
Der Sprung über den großen Teich nach Oldenburg Anfang der Achtzigerjahre war auch eine Art Befreiung. „Die Menschen in meiner Heimat waren hasserfüllt. In Oldenburg dagegen hat es mir so gutgetan, dieses Gemeinschaftsgefühl zu erleben. Ich wollte Bürger dieser Stadt sein.“
"Tanz auf dem Vulkan" heißt die erste Schallplatte von Chris Jarrett. Der Titel könnte auch sein Lebensmotto sein. Sie wurde aufgenommen im Jahr 1985 live vor kleinem Publikum im Oldenburger Konzerthaus Rosenkranz. „Es waren erste Gehversuche mit eigenen Kompositionen“, sagt Jarrett. „Das Titelstück ist immer noch gut. Das Thema von „8. Mai“ habe ich woanders eingebaut, in einem heiteren Stück mit Schlagzeuger. Das Foto mit dem Klavier vor dem Bunker entstand in der Nähe von Oldenburg.“ 1990 zog er weiter nach Westen, in die Nähe von Köln, später in die Südpfalz.
Im Moment kann Chris Jarrett seine Musikalität wie alle anderen nicht auf die Bühne oder in die Kirchenräume bringen. „Alles, was ich in den vergangenen Monaten mühsam erarbeitet habe, ist für die Katz’. Zum Beispiel hatte ich mich sehr auf das Orgelkonzert in Ganderkesee gefreut“. Abgesagt, wie die Konzertreihe in Polen, wo er hätte den Komponisten Krzysztof Penderecki treffen sollen, der allerdings nach langer Krankheit im März im Alter von 86 Jahren verstorben ist.
Mit seinem Lebensweg ist er im Reinen. „Ich bin kreativ, schreibe neue Stücke und habe noch viele Ideen; zum Beispiel eine Liedreihe mit Hölderlin-Texten. Und ich versuche, mein Wissen zur Musikgeschichte auch privat anzubieten. Über Skype ist das ja gut möglich.“
Was noch? „Seit 2014 ganz viel Orgelmusik improvisiert, für jedes Konzert neue Musik, neue Komposition, das tue ich mit großer Freude. Ich bin kein gelernter Organist, die Pedalarbeit muss noch besser werden. Die Konzerte sind sehr spannend“, zählt er im Stakkato auf, und weiter: „Ein Duo mit Schlagzeuger Erwin Ditzner. Unsere Liveaufnahme in Mannheim kommt gerade als LP und CD raus. Dann spiele ich im Duo mit meiner Frau – Abwechslung ist mein Markenzeichen“, sagt er lachend.
Zum Abschluss kommt Chris am großen Bruder nicht vorbei. „Keith und ich telefonieren ab und zu. Dann erinnern wir uns, dass wir dieselben Eltern haben.“ Und deshalb hat er die anstehende Übersetzung von Wolfgang Sandners Keith-Jarrett-Biografie ins Englische doch lieber selbst vorgenommen. Das sehr empfehlenswerte Buch, das 2018 erschienen ist, soll im Herbst 2020 erscheinen.
Text: oli/anbeat.com
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