In den Songs von Bob Dylan, der am 24. Mai 80 Jahre alt wurde, spiegelt sich nach Worten des Göttinger Literaturwissenschaftlers Heinrich Detering die amerikanische Seele. Oliver Schulz hat mit dem Experten über die lebende Legende gesprochen.
Frage: Bob Dylan wird 80: Herr Prof. Detering, warum versammeln wir uns auch nach 60 Jahren um seine Musik wie um ein Lagerfeuer?
Detering: Um im Bild zu bleiben: Weil der Energienachschub noch immer nicht aufhört. Dylan hat seit Anfang der 1960er Jahre in so unterschiedlichen musikalischen und songpoetischen Ausdrucksformen gearbeitet, dass man manchmal glaubte, nun könne eigentlich nichts mehr kommen. Ende der 1980er sah es ja wirklich fast danach aus. Und dann hat er, mit der „Never Ending Tour“ seit 1988, noch einmal ganz von vorn angefangen – akustisch, auf kleinen Bühnen, im improvisierenden Spiel mit allen erdenklichen Songtraditionen. Aus dieser neugewonnen Kraft heraus hat er mit „Time Out of Mind“ 1997 und „Love and Theft“ 2001 ein Spätwerk begonnen, das bis heute einige seiner stärksten Alben überhaupt hervorgebracht hat – zuletzt, unglaublicherweise im achtzigsten Lebensjahr, „Rough and Rowdy Ways“, das zugleich so abgeklärt und beinahe jugendlich erfrischt wirkt wie wenige andere Alben. Dylan ist mit 80 im Vollbesitz seiner kreativen Kräfte. Und er ist so überraschend, wie er es in seinen besten Zeiten war. Diese Energie steckt an.
Frage: Sie beschäftigen sich seit langer Zeit intensiv mit Bob Dylan. Haben Sie ihn nach der langen Zeit durchdrungen?
Detering: Nein, ganz bestimmt nicht. Wie sollte das auch aussehen? Irgendjemand hat vor langer Zeit mal das Adjektiv „dylanesk“ erfunden, analog zu „kafkaesk“ – als Ausdruck für Songs, Gedichte und Stories, die unmittelbar zugänglich wirken und in denen man doch jedes Mal unerwartet Neues und Rätselhaftes entdeckt. Worin immer genau dieses Geheimnis seiner Songs besteht, es führt jedenfalls dazu, dass sie nie erledigt oder verbraucht sind. Für mich hat selbst „Like a Rolling Stone“ noch immer etwas von diesem Geheimnis. Wie vermutlich alle große Kunst.
Frage: Warum hat es sich Bob Dylan in all seiner Musik so schwer gemacht und seinen Zuhörern?
Detering: Diese Frage besagt genau genommen: Warum ist Dylan Dylan? Er hat es von Anfang an vermieden, die einfachen und erfolgversprechenden Wege zu gehen, das Erwartbare zu tun – vielleicht weil er gar nichts anders kann, als immer wieder ins Unbekannte aufzubrechen. Ich glaube nicht, dass er jemals die Provokation als Selbstzweck gesucht hat. Er folgt einer Sehnsucht nach einem wiederzugewinnenden, ursprünglichen, er würde vielleicht sogar sagen: wahren Ausdruck. Den findet er einerseits in der Vergangenheit der amerikanischen Songtraditionen und in der Literatur bis zurück in die Antike – und andererseits in dem, was er immerfort noch vor sich sieht. Das können ja übrigens auch ganz einfache, leichte Formen sein; denken Sie nur an seine Country-Phase.
Frage: Täuscht der Eindruck: Die Stimme Amerikas hat – von der zahllosen Interpretation seiner Songs bis hin zur Nobelpreis-Dankesrede durch Patti Smith – am liebsten durch andere gesprochen?
Detering: Ja, ich glaube, dass dieser Eindruck täuscht. Seine Plattenfirma hat mal, als die Zahl der Coverversionen unübersehbar zu werden begann, den Slogan entwickelt: „Nobody sings Dylan like Dylan.“ Erstens stimmt das, und zweitens hat er ja auch mit einigem Ehrgeiz sehr unterschiedlichen Gebrauch von seiner eigenen Stimme gemacht, zuletzt in den unterschätzten Sinatra-Alben – und natürlich in seiner unbedingt hörenswerten eigenen Aufnahme der Nobelpreisrede, die er mit jazziger Klavierbegleitung nach Stockholm geschickt hat. Anmerkung: Patti Smith hat dort an seiner Stelle gesungen; die Rede gehalten hat er selber!
Frage: Die Folk-Ikone Dylan hat mehrfach ihren Stil geändert, man denke an die E-Gitarren ab 1965 oder die Hinwendung zum Glauben ab den 70er-Jahren, und damit die Stammkundschaft irritiert. Konnte er sich alles erlauben - oder hatte er nichts zu verlieren?
Detering: Es war ihm, glaube ich, letztlich immer egal, ob er Anhänger gewinnt oder verliert. In einem schönen Gedicht, das er 1964 veröffentlichte – damals schrieb er ja noch ziemlich oft Gedichte –, steht die Zeile: „When asked to give your real name – never give it.“ Das setzt erstens voraus, dass es so etwas wie den wahren Namen gibt; zweitens, das dieser Name etwas von einem Mysterium hat und behalten soll; und drittens, dass dieser wahre Name geschützt werden muss, wie etwas Heiliges. Diese Zeile ist für mich so etwas wie das Programm seiner unablässigen Register- und Rollenwechsel. Sie sind für mich kein postmodernes Verkleidungsspiel, wie oft gemeint wird, sondern eine Suche nach dem Paradox, sich zu finden, indem man sich verliert; in den Verkleidungen man selbst zu sein. Und das heißt bei jemandem wie Dylan auch: sehr unterschiedliche Möglichkeiten des Lebens, Glaubens, Handelns, sehr unterschiedliche Formen von Beziehungen und Adressierungen zu durchlaufen. Vielleicht gibt es deshalb für jeden Menschen irgendeine Stelle in diesem riesigen Werk, an der er oder sich ganz unvermutet wiedererkennen kann.
Frage: Ist Bob Dylan ein lebensbejahender Mensch?
Detering: Wie Dylan als Mensch ist – davon habe ich wirklich keine Ahnung. Manchmal habe ich Vermutungen, aber die sind vage. Seine Songs jedenfalls sind schon deshalb lebensbejahend, weil sie da sind, weil die Quelle immer noch nicht versiegt und weil diese Songs immerzu, ausgesprochen oder zwischen den Zeilen, in lebhafte Gespräche verstrickt sind – mit einer unüberschaubaren Zahl früherer Songs und mit der Weltpoesie. Eine Kunst, die so lebendig ist, kann selbst in den pessimistischsten Phasen nicht lebensverneinend sein.
Prof. Heinrich Detering lehrt Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Göttingen. Der 61-Jährige forscht und publiziert zudem zum Thema Bob Dylan.
Seine Bücher:
• Bob Dylan. Reclam (6. Auflage) 2016.
• Die Stimmen aus der Unterwelt. Bob Dylans Mysterienspiele. Beck 2016. Dylans Texte/Übersetzung von Heinrich Detering:
• Planetenwellen. Gedichte und Prosa. Hoffmann und Campe 2017.
• Tarantel. Kommentierte Neuausgabe. HoCa 2017.
• Die Nobelpreis-Vorlesung. Hoffmann und Campe 2017.
• Ich bin nur ich selbst, wer immer das ist. Gespräche aus sechzig Jahren. Kampa Verlag 2021.
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