Die Popkultur des Sommers 2024 kennt zwei Phänomene: Taylor Swift und Bob Dylan. Während die 34-Jährige ihre Bubble bespaßt, regelt der 83-Jährige aufwendigst sein Erbe.
Als es im Jahr 2024 galt, die Welt der Popkultur aufzuteilen, standen Swifties und Dylanologen einander versöhnlich gegenüber. Beide Seiten waren bereit, fortan in friedlicher Koexistenz zu leben; in einer Lebenshaltung, die darauf ausgerichtet ist, das Bedürfnis nach neuen Konsumgütern stets zu befriedigen. Das Phänomen Taylor Swift wurde dieser Tage hinlänglich beschrieben – und auch wie sie es geschafft hat, ihr Publikum nicht nur in den Fußballstadien zu versammeln, sondern sogar darüber hinaus und den 60 Meter hohen Schuttberg im Münchener Olympiapark hinauf.
Wenden wir uns hier also Bob Dylan zu, dessen Statusmeldung mit „Gesamtkunstwerk“ nur unzureichend beschrieben ist. Alles von ihm trägt inzwischen enormes Gewicht und bremst seit langer Zeit jegliche kritische Rezension mit dem Hinweis: Vor ihnen fährt ein Schwertransport, der nicht überholt werden kann! Während Taylor Swift „Glitter and Glamour“ über ihre Bubble wirft, verteilt Bob Dylan in seiner Gemeinde den Feinstaub von „Pomp and Circumstance“.
Der 83-Jährige regelt seit einiger Zeit aufwendigst sein Erbe: 2015 erwarben die Uni Tulsa und die Stiftung des Milliardärs George Kaiser im Vorlass eine Sammlung von rund 6000 Dylan-Archivalien zum Preis von geschätzt 15 bis 20 Millionen Dollar. 2016 wurde ihm für sein lyrisches Gesamtwerk der Nobelpreis für Literatur zugesprochen, 2020 klärte er binnen 16 Minuten in „Murder Most Foul“ den Mord an John F. Kennedy. Am Jahresende dann verkaufte Dylan die Verlagsrechte an seinem aus über 600 Titeln bestehenden Œuvre an Universal Music.
Sein Buch „The Philosophy of Modern Song“ von 2022 taugt als Kanon der US-amerikanischen Musik und knüpft nahtlos an die 100 Sendungen seiner berühmten „Theme Time Radio Hour“ von 2006 bis 2009 an. Für das Rennen um die US-Präsidentschaft kommt er nun nicht mehr infrage, wahrscheinlich wäre auf seiner seit 1988 währenden „Never Ending Tour“ auch kein Slot geblieben. Die Konzertreise soll bis zum Jahresende 2024 dauern, hieß es mal. Gerade steht der umtriebige Senior in Kalifornien auf der Bühne, Anfang Oktober fliegt er nach Europa und beehrt auch Deutschland (u.a. je dreimal Berlin und Frankfurt): „Ladies and gentlemen, would you please welcome Columbia Recording Artist Bob Dylan.”
Zu Weihnachten ist dann auch Zeit, um für das Biopic „A Complete Unknown“ von Regisseur James Mangold (fünf Oscar-Nominierungen für „Walk the Line“, eine Nominierung für „Le Mans“) ins Kino zu gehen. Die Filmbiografie erzählt von Bob Dylans Karrierebeginn in den frühen Sechzigerjahren und seinem spannenden Wandel vom Folk- zum Rockmusiker – zur großen Erschütterung der Folk-Legenden Pete Seeger und Woody Guthrie. Als Grundlage diente das Sachbuch „Dylan Goes Electric!“ von Elijah Wald. Die Titelrolle übernahm Timothée Chalamet, und der Film reiht sich wunderbar ein neben D. A. Pennebakers berühmter Doku „Don’t Look Back“ von 1967, „No Direction Home“ von Martin Scorsese (2005) und Todd Haynes’ „I’m Not There“ von 2007.
Obwohl wir längst das Gefühl haben, alles sei gehört, gesagt, geschrieben über den Musiker, diesen Magier, unseren Meister – „Bob Dylan: Mixing Up the Medicine“ von 2023 treibt den Personenkult auf die Spitze. Das 608 Seiten starke Werk für 98 Euro tritt im Superschwergewicht der Musikbücher als Meister aller Klassen an. Allein die Recherche und das Katalogisieren von zuvor unveröffentlichten Fotos und Zeugnissen aus dem Bob Dylan-Archiv von 1941 bis heute sind vor allem für seine Anhänger atemberaubend. Das Opus magnum, mehr geht nicht.
„Irgendjemand hat vor langer Zeit mal das Adjektiv „dylanesk“ erfunden, analog zu „kafkaesk“ – als Ausdruck für Songs, Gedichte und Stories, die unmittelbar zugänglich wirken und in denen man doch jedes Mal unerwartet Neues und Rätselhaftes entdeckt“, stellte der Göttinger Literaturwissenschaftler und Dylan-Experte Prof. Heinrich Detering im Interview mit dieser Zeitung fest. „Worin immer genau dieses Geheimnis seiner Songs besteht, es führt jedenfalls dazu, dass sie nie erledigt oder verbraucht sind. Für mich hat selbst ,Like a Rolling Stone’ noch immer etwas von diesem Geheimnis. Wie vermutlich alle große Kunst.“ Was zu beweisen war.
Text: Oliver Schulz/anbeat.com
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Kathi (Donnerstag, 08 August 2024 19:25)
Jetzt muss ich auf Spotify... Und auf das Biopic bin ich schon mega gespannt! Danke!